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Betreuerin: Apl. Prof. Dr. Béatrice Hendrich

Esra Canpalat (Doktorandin)

Thema der Dissertation: İstanbul Hatırası / Eine Istanbul-Erinnerung. Transkulturalität und dokumentarische Gesten in Istanbul-Romanen der frühen 2000er Jahren

 

Ausgangspunkt meines Dissertationsvorhabens ist die Beobachtung, dass in der türkischen Literatur der frühen Jahrtausendwende eine Tendenz festzustellen ist, die multilinguale und multiethnische Seite der Türkei in den Vordergrund zu stellen, um sich von der autoritären Gegenwart des monokulturellen Nationalismus zu befreien und die kosmopolitische Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dieser bereits in den 1980er/90er Jahren stattfindende Diskurswandel führte einerseits zu einer Revision der von den Nationalist_innen nach der Republikgründung forcierten Historiografie, andererseits zu einem Interesse vonseiten der türkischen Autor_innen, die Erfahrungswelt von Minderheiten zu dokumentieren.

Die ab den frühen 2000er Jahren in der Türkei entstehende Literatur möchte ich mit Bezug auf Vilém Flusser durch den Begriff der dokumentarischen Geste beschreiben, um die Kopplung dokumentarischer Operationen mit einem metaphorischen Zeigen oder Zurschaustellen von Vergangenheitsverhältnissen zu beschreiben, die affektiv, ephemer und ästhetisiert sind. Die in den Texten zum Einsatz kommenden dokumentarischen Operationen verfolgen nicht nur einen evidenziellen oder deiktischen Zweck im Sinne eines Bartheschen Es-ist-so-gewesen, sondern auch das Ziel, eine spezifische Stimmung, nämlich die Nostalgie für ein einstiges transkulturelles Istanbul, zu evozieren und zu transportieren.

Diese durch den Einsatz von Dokumenten oder dokumentarischen Operationen erzeugte und affektive Gestimmtheit ist es, die auch die Texte auszeichnet, die in die-sem Dissertationsvorhaben untersucht werden. Anhand der Analyse von Mario Levis Roman Istanbul war ein Märchen (2008) / İstanbul Bir Masaldı (1999), Orhan Pamuks Memoiren Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt (2006) / İstanbul. Hatıralar Ve Şehir (2003) und Elif Shafaks Roman The Bastard of Istanbul (2006) möchte ich zeigen, wie in der türkischen Literatur der frühen 2000ern der Versuch unternommen wird, mithilfe der Kopplung von dokumentarischen Praktiken und einer der_dem jeweiligen_m Autor_in spezifisch ästhetisch-poetologischen Perspektive, das transkulturelle Istanbul als Erinnerungsraum zu konstituieren, um somit die kosmopolitische Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Ich möchte untersuchen, wie die Autor_innen vor dem Hintergrund der vielfältigen und liminalen Topografie Istanbuls versuchen deutlich zu machen, dass die Vergangenheit eben nicht abgeschlossen ist – wie die nationalistische Historiografie einen glauben lassen möchte, sondern in der gegenwärtigen kulturellen Landschaft fortdauert und durch den Akt des Erinnerns immer wieder aktualisiert wird.